Dreißig Jahre später

In jenem Herbst, als die Wiedervereinigung über uns hereinbrach, interessierte ich mich sehr für die Druckknöpfe im Schritt von Sandra Richters Body und fragte mich regelmäßig, ob es notwendig sei, unbedingt noch einen Slip darunter zu tragen. Die Haken-und-Ösen-Prüfung hatte ich bereits im Sommer erfolgreich bei Michaela Kramer abgelegt und sie daraufhin ihren BH. Im Frühjahr war die letzte Ausgabe der Happy Computer erschienen und bei meinem Vater in der Firma arbeiteten drei Mohammedaner.

Mit meinen Eltern war ich bis dahin einmal in Rimini gewesen und wahrscheinlich hundert Mal in Lenzerheide. Wenn ich in die Schweiz wollte, bin ich über die Brücke gegangen, mit der Fähre gefahren oder einfach durch den Rhein geschwommen. Ausland ist dort, wo man den Pass zeigen muss, im Dunkeln geht man nicht alleine durch die Unterführung, um sechs Uhr gibt’s Abendbrot und um zehn ist der Computer aus.

Als Mölln brannte, hing in meinem Zimmer ein Landschaftsposter mit Regenbogen und ein Tiger in grellen Farben, die irgendjemand aus meiner Klasse bei einem Versandhandel bestellt hatte. Als Rostock brannte, trug ich Turnschuhe mit neongrünen Schnürsenkeln. Und als Solingen brannte, schlug ich mich mit der Mitternachtsformel herum. Die „Verschiedenes“-Seite der Badischen Zeitung war der Nabel der Welt, aber, wenn ich ganz ehrlich bin, lag er für mich etwas unterhalb von Sandra Richters. Innerhalb Deutschlands konnte Deutschland nicht weiter weg sein.

Knapp dreißig Jahre, nachdem ich erstmals Michaelas BH geöffnet und Sandra den Slip ausgezogen habe, ist die Welt größer und Deutschland kleiner geworden. Ich lebe nicht mehr in einem Dorf an der Grenze zur Schweiz und ich habe schnelles Internet. Außer Netflix habe ich mehr als thirteen channels of shit on the tv to choose from, ich lebe mit unzähligen Büchern, einem Abo der Süddeutschen, einer kaputten Leber und einer Frau ausn Osten zusammen. Ich habe keine Kinder, aber zwei Nichten, einen Neffen und einen Stall voll Patenkinder, weil aus mir unerfindlichen Gründen manche Menschen glauben, ich sei ein guter Mensch, auf den man sich verlassen kann, und nicht das zynische Arschloch, das ich in mir sehe.

Mein Zynismus hilft mir, nicht endgültig verrückt zu werden, denn ich kann dadurch manchen Unsinn ertragen. Religionen zum Beispiel. Dummes Geschwätz. Oder substanzlose Unterstellungen. Mein Zynismus hilft mir dabei, die Dinge anzuzweifeln, die mir präsentiert werden, und er hat mich gelehrt, dass so gut wie nichts in Stein gemeißelt ist. Es werden Fehler gemacht, weil wir fehlbar sind. Politiker sind fehlbar. Journalisten auch. Hinter dieser Fehlbarkeit steckt nicht unbedingt eine negative Motivation. Manchmal sind wir einfach dumm. Unfassbar dumm.

Knapp dreißig Jahre, nachdem mein Computer um zehn Uhr aus sein musste, esse ich mein Abendbrot, wenn ich Lust dazu habe, denn ich habe gelernt, dass Hunger keine Uhrzeit kennt. Ich habe noch ganz andere Sachen gelernt, zum Beispiel, dass im Victoriasee maulbrütende Buntbarsche leben oder dass ich durchaus Wasser trinken darf, nachdem ich Kirschen gegessen habe. Ich weiß, dass ich einen Hammer im Ohr habe und dass es fast ein Mädchen war, das sich darin ein Bett gemacht hat. Ich weiß, dass das Klima sich wandelt, dass nach Kenntnis von Günter Schabowski die Grenzöffnung unverzüglich stattfand und ich weiß, dass ich nicht das Volk bin. Ich war es vor knapp dreißig Jahren nicht, ich bin es heute nicht, und ich bin es schon gar nicht in Dresden.

Wenn ich einen Artikel über das US-amerikanische Gesundheitssystem lese, muss ich feststellen, dass das Thema sehr leicht unterschätzt werden kann. Bis vor drei Jahren wusste ich nicht, wo Damaskus liegt. Und ich dachte früher, dass der Baader-Meinhof-Komplex ein Gebäude in Stuttgart ist. Ich bin in vielerlei Hinsicht ziemlich dumm, aber das ist nicht schlimm, denn nur weil ich manchmal ziemlich dumm bin, bin ich kein schlechter Mensch.

Alexander Gauland ist nicht dumm, er weiß sehr viel. Er wird gewählt von Menschen, die nicht dumm sind, und von Menschen, die glauben, sie wüssten viel. Viele seiner Wähler glauben so sehr, dass sie viel wissen, dass sie sich gar nicht bemühen, an ihrem Wissen zu zweifeln. Das nennt man Ignoranz. Ignoranz ist viel schlimmer als Dummheit, denn Ignoranz ist die Weigerung, etwas gegen die eigene Dummheit zu unternehmen. Und ignoranten Menschen durch falsche Tatsachen Angst zu machen und sie aufzuhetzen – das ist schlichtweg niederträchtig.

Ich weiß nicht, was aus Michaela Kramer geworden ist, aber ich weiß, dass Sandra Richter nach ihrer Ausbildung zur Bankkauffrau einen Ingenieur geheiratet hat und mit ihm nach Dortmund gezogen ist. Vor fünf Jahren kam sie bei einem Autounfall ums Leben. Ich war ein bisschen traurig, als ich davon erfuhr, aber letztlich war sie doch schon lange nur eine Erinnerung an eine Zeit, in der die Welt noch überschaubar war.

Knapp dreißig Jahre, nachdem ich diesen Text geschrieben habe, wird Alexander Gauland wahrscheinlich schon lange tot sein. Meine Nichten, mein Neffe und meine Patenkinder werden einen Pass der EU in der Tasche haben und über Dieselmotoren lachen. Sie werden sich nicht vorstellen können, dass es im Jahr 2017 Menschen gab, die den Klimawandel geleugnet haben. Sie werden wissen, dass sie jeden Tag etwas Neues lernen, etwas Altes in Frage stellen und etwas Unbekanntes vorsichtig behandeln müssen. Sie werden alle Chancen haben. Und nur ganz selten Angst.

Noch haben wir’s in der Hand: Wir haben die Wahl.

(Und noch etwas: Vielleicht wird in knapp dreißig Jahren die Welt kaputter sein als sie es heute ist. Vielleicht wird man in Großstädten nicht mehr atmen können, vielleicht hat Nigeria die USA in die Steinzeit gebombt, vielleicht war Jesus wieder da, vielleicht besteht Europa aus 83 Kleinstaaten und in einem davon laufen dreihundert Vollzeitbesorgte im Kreis durch den nuklearen Winter. Vielleicht wird die Zukunft nicht unbedingt schön. Aber Alexander Gauland wird mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit tot sein.)